Countdown: Die Kraft der Psyche (Seite 110-112)
Was ist eigentlich der "Biss" ?
Immer wieder wundern sich einige Leute über die Kampfkraft mancher Läufer, über diesen unbedingten Willen zum Siegen und sei es nur über sich selbst. Diesen Willen, den wir so schön den "Biss" nennen. Diese innere heiße Kraft, die auch in der Aura der Siegertypen strahlt. Einige unserer "Mitläufer" fechten diesen Kampf wohl nur in ihrem Inneren aus, andere stellen diesen, ihren innersten seelischen Fight mit Gegner, Strecke und ihrer Seele, auf ihrer äußeren Hülle dar.
Der äthiopische Langstreckenläufer Haile Gebrselassie ist so ein Typ, der unglaublich locker läuft, aber während der Anstrengung die Augen und den Mund so weit aufgerissen hat, dass sein Gesicht zur Fratze verkommt. Der leider schon verstorbene Emil Zatopek war ein ganz anderer Vertreter dieses Faches. Sein ganzes Leid, seine Schmerzen, die Skala seiner Emotionen und seinen Siegeswillen spielte er uns in einer unglaublichen Virtuosität vor. Den kopf schlingernd vor sich hertragend, wild mit den Armen rudernd, einen gotterbarmenden, sauerstoffheischenden Blick in den Augen, dann und wann in Gefahr, sich auf die Zunge zu treten, wankte er über die Bahn und siegte.
So mancher meint heute, das war alles nur Theater und dieses böhmische Schlitzohr hat uns alle auf den Arm genommen. Ich glaube es nicht. Der hat sich bloß einen Dreck darum gekehrt, wie er aussah, ist so konzentriert und so hochmotiviert gelaufen, dass er gar keine Kraft dafür verschwendet hat, sein Äußeres zu kontrollieren. Er wollte nur den Erfolg, und zwar bedingungslos. Wiederum verbergen andere Läufer erfolgreich ihr Inneres und sind trotzdem ungewöhnlich schnell. Ich fragte mich immer wieder, wie die das machen. Bei mir selbst reicht schon ein minimaler Anstieg auf der Strecke, dann sehe ich so aus, dass unbeteiligte Zuschauer um ihr Leben fürchten. Die Läuferin Doris Grossert, die ich früher trainierte, jetzt hat sie ihre Karriere schon einige Jahre beendet, lief auch noch im Endkampf eines Marathons so locker wie bei einem Start zu einem leichten Dauerlauftraining. Ich bin fast verrückt geworden, weil ich meinte, sie würde sich nicht anstrengen. Sie schwor aber Stein und Bein, dass sie alles gäbe, aber sie möchte auf der Zielgraden immer noch den Zuschauern zulächeln können. Wenn es dann um Sieg, Zeit oder Niederlage ging uns sie auch noch in das Publikum winkte, kamen mir fast die Tränen. Ich wusste genau, dass gerade dieses Lächeln sie um die entscheidenden Sekunden brachte. Na ja, heute kann ich ihr nicht böse sein. Die gute Doris hatte so viel Talent, dass es für Olympia gereicht hätte, wenn sie den richtigen Biss gehabt hätte. So hat es "nur" zu einer 2:38 im Marathon gereicht.
Anekdote:
Welches großartige Talent Doris Grossert war, kannst du aus den nachfolgenden Zeilen herauslesen: Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau an das Datum, aber es war bei der deutschen 15-km-Meisterschaft 1991 in Offenbach an der Queich. Dieser Tag war warm, sehr warm und wir rechneten uns für Doris einen Platz unter den ersten zehn aus. Es waren vier Runden zu laufen und nach der ersten Runde lief sie auch im angestrebten Bereich. Am Ziel stehend und in der zweiten Runde wartend schaute ich mir beim Durchlauf der Spitzengruppe die Augen aus dem Kopf, in der Doris jetzt nicht mehr vorhanden war.
Mindestens zehn Plätze später lief sie an mir vorbei, sah locker aus und zeigte keine Zeichen von Erschöpfung. Na, dachte ich mir, da war bestimmt eine Toilettenpause nötig. Wie unsere Doris so war, lief sie anschließend wirklich einmal mit voller Kraft und holte die verlorenen Plätze wieder ein und belegte Rang sieben oder acht. Nach dem Zieleinlauf fragte ich sie: "Was war denn bloß in der zweiten Runde los?"
Sie antwortete: "Ach weißt du, es lief alles ganz prima. Aber plötzlich bemerkte ich, dass ich mein Taschentuch (Schnudeltuch) verloren hatte, welches ich immer bei mir trage. Erst habe ich gedacht, dass ich ja noch einmal daran vorbeikomme, dann aber hatte ich Angst, dass es irgendjemand mitgenommen haben würde. Und ich habe dann noch ein bisschen überlegt und bin schließlich zurückgelaufen und habe das Tuch geholt."
Ich wollte nicht glauben, was sie mir dort im Rahmen einer nationalen Meisterschaft erzählte, so entgleisten mir wohl auch die Gesichtszüge. Der Hammer kommt aber erst noch, denn sie fuhr fort: "Ich weiß gar nicht, was du hast, ich bin die 30 m zurückgelaufen und dann konnte ich aber auch ganz schnell wieder zu den anderen beiden, mit denen ich vorher gelaufen bin, aufschließen und wir sind dann auch zusammen in das Ziel gelaufen."
Solche Athletinnen rauben dir den letzten Nerv. Du fragst dich dann in diesen Momenten nach der Sinnlosigkeit deines Tuns. Andere kämpfen bis zum Letzten um die nationale Meisterschaft und diese Dame hat nichts anderes zu tun, als sich um ihr Schnudeltuch zu sorgen. Das Schlimme an der ganzen Sache war, dass ich Doris nicht einmal richtig Böse sein konnte, weil sie von Grund auf ein liebenswürdiger Mensch war. Aber dennoch: Im ersten Moment hätte ich ihr gerne einen Tritt in den Hintern versetzen mögen. Aber wie auch immer, sie war auch einer der vielen Sargnägel, die mich dann zehn Jahre später aus der nationalen Laufszene vertrieben haben. Die meisten dieser Nägel stammten aus der Hand unserer hoch leistungsfähigen Frauengruppe. Neid, Eifersucht und Missgunst waren in manchen Jahren nicht mehr zu ertragen.
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Peter Greif