Countdown: Die Kraft der Psyche (Seite 113-115)
Schmerz krallt in den Muskeln
Ist es nun besser, zu zeigen, welcher Aufruhr auf unseren Nervenbahnen herrscht, oder ist es besser, seine Schmerzen während des Wettkampfs zu verbergen? Nicht den kleinsten Einblick zu geben in die Windungen deiner Schaltzentrale? Die Welt der Gefühle hinter einem wie wahnwitzig schlagendem Herz zu verstecken? Verbergen die Milliarden Finger der Muskelzellen, die mit spitzen Krallen im Stoffwechsel vergraben sind. Saugend, beißend, schneidend an deinen Nervenenden hängen und in ihrer Not, in ihrem Hunger nach Energie und Sauerstoff, das Echo ihres Schmerzes durch deinen Körper pulsen? Ich kann es nicht entscheiden! Eins ist sicher, bei einem Ausreißversuch wird der Gegner dem erschöpft Ausschauenden eher folgen als dem coolen, frisch wirkenden Konkurrenten. Entscheidend aber wird immer sein, mit welcher Kampfkraft der Athlet ausgerüstet ist. Wichtig ist nur, dass keine Energie in die Außenwirkung verpulvert wird, wer im Zieleinlauf den Bauch einzieht und den Arm für ein fotogenes Zielbild zum Winken hebt, verliert eventuell wertvolle Sekunden.
Der innere Tiger
Was ist nun eigentlich Kampfkraft? Warum können einige Leute mehr aus sich herausholen als andere? Zur Erklärung müssen wir einmal auf unser so geschickt organisiertes biologisches System zurückgreifen. In Millionen von Jahren entwickelt, verbessert, verfeinert und optimiert.
Die autonome Reserve
In dieses System wurde im Laufe der Evolution die sogenannte autonome Reserve eingebaut. Dieser Notvorrat versetzt uns in die Lage, auch nach der größten Erschöpfung, bei der wir alles aus uns herausgeholt haben, noch einmal eine Energieleistung zu vollbringen, wenn unser Leben bedroht wird. Diese, wir können sie auch Todeskampfreserve nennen, ist mit unserem Willen alleine nicht zu erschöpfen. Sie entzieht sich dem völligen Zugriff im sportlichen Bereich. Nun, über die Größe dieser Reserve gibt es nur Spekulationen. In der Literatur findet man allgemein die Angabe, dass 20 bis 35% unserer Speicher als eiserne Ration reserviert sind, um zurückzublasen, wenn uns jemand an das Lebenslicht will. Aber auch von nur 5% habe ich gelesen. Klar festzulegen ist diese Grenze nicht. Dies verbietet sich aus ethischen Gründen. Wie sollte so etwas auch möglich sein?
Zur Verdeutlichung aber folgende fiktive Situation: Wir bieten einer wirtschaftlich minderbemittelten Person für jede Sekunde, die sie sich an einer Reckstange festhält, 1.000 €. Die Reckstange befindet sich in einer moderaten Höhe, sodass der zu Prüfende ohne Gefahr für Leib und Leben seinen Griff lösen kann. Dazu laden wir ein Publikum ein, sodass auch von dieser Seite für genügend Motivation gesorgt ist. Wie lange wird er wohl hängen? Wir halten die Zeit fest.
Nach einigen Tagen der Erholung lassen wir ihn den Test wiederholen. Dann aber im zwölften Stockwerk eines Hochhauses an der Dachrinne hängend. Na ja, ziemlich makaber, aber aus der Differenz der Zeiten bis zum Lösen des Griffs könnten sogar mindestens 22,5 % aller heutigen Abiturienten die autonome Reserve errechnen.
Motivation: Kampfkraft
Nun, kommen wir wieder zurück auf unsere Ursprungsfrage. Was ist Kampfkraft? Das ist das Herangehen, das Knabbern, das Knautschen, das Wringen an der autonomen Reserve. Möglichst viel von diesem Vorrat aus dem „Keller“ zu holen und dem Stoffwechsel „mundgerecht“ zu servieren, das ist der berühmte Biss. Mit einigen kleinen Sauerstoffmolekülchen hübsch zurechtgemacht auf die Rundstrecke deines Kreislaufs geschickt, hilft dir dieses Zubrot über die letzten Kilometer.
Wie aber kommst du nun an diese Reserve? Die Gretchenfrage überhaupt! Manch einer sollte jetzt lieber die Augen schließen, umblättern und drei Seiten später weiterlesen. Die Betroffenen wollen nämlich nicht. Sie wollen nicht die Schmerzen ertragen, die kreissägengleich in ihren Beinen hausen, wollen nicht ertragen das Brennen der Lunge, den Puls, der sich bedrohlich der 200-Schlag-Grenze nähert, und wollen nicht dieses so hässliche Gefühl spüren, wenn dir in der Sauerstoffschuld langsam die Beine absterben. Wenn sie scheinbar den doppelten Umfang angenommen haben und bleischwer als nutzlose Anhängsel an deinen Hüften hängen. Wenn deine Laufwerkzeuge dir nicht mehr gehören, nicht auf Befehle reagieren, die deinem Gehirn entsprungen sind, sondern aus anderen, fremden Welten in das Fleisch deiner Muskeln fließen.
Motivation: Siegeswille
Dieses Verhalten des Nicht-bis-zum-Letzten-kämpfen-Wollen ist voll und ganz akzeptabel und von uns in keiner Sekunde zu kritisieren. Das ist deine eigene, deine ureigene Entscheidung. Aber einen Blumentopf, sei er auch nur mit einem einzigen Gänseblümchen bepflanzt, kann damit niemand gewinnen. Wer siegen will, muss kämpfen, muss wissen, an welchem Tag er alles geben und über sich hinauswachsen kann (darum auch Wettkampf). An diesem Tag kann nur gewinnen, wer gewinnen will – ohne Rücksicht.
Wiederum muss ein solcher Kämpfer aber auch eines ganz genau wissen: Ein solches Verhalten der vollen Forderung ist nur in wenigen Wettkämpfen im Jahr möglich. Und damit sind wir nämlich an dem Aspekt angelangt, an dem es bei den meisten Kämpfertypen hapert. Das ist das sinnvolle Planen, sich auf den Punkt in Form zu bringen, sich sinnvoll zu motivieren und sich auf wenige, wichtige Wettkämpfe zu konzentrieren. Wer jeden, auch den kleinsten Wettkampf mit dem höchsten Einsatz läuft, wird zwangsläufig verschleißen und muss pausieren. Niemand kann das ganze Jahr über Höchstleistung bringen. Er bringt dann, wenn es wirklich darauf ankommt, zwar ausreichend Leistung, aber eben keine Höchstleistung mehr. Das musst du dir immer wieder klarmachen, denn leider hat die ganze Sache einen bösen Hacken, einen vollbiologischen. Der Fighter kann sich, einmal losgelassen, kaum noch kontrollieren. Speziell, wenn in seinen Adern noch das heiße Blut der Jugend fließt.
Das Freisetzen der Energie aus der autonomen Reserve wird über die Harmone Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin gelenkt. Sie werden auch Stressharmone oder Katechlamine genannt. Unter deren Entwicklung verengen sich die Gefäße in der nicht arbeitenden Muskulatur, sodass dort der Blutstrom gebremst und vermehrt in die Laufmuskulatur fließen kann. Die Kampf- und Fluchtbereitschaft werden gefördert.
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Peter Greif